Die Anlaufstelle von Pro Mente Sana innerhalb der Kantonalen Psychiatrischen Klinik des Kantons Tessin und andere Eigenheiten dieser offenen Akutklinik

Die Kantonale Psychiatrische Klinik mit 150 Betten ist Teil der OSC (organizzazione sociopsichiatrico cantonale) des kantonalen psychiatrischen Netzwerkes des Kantons Tessin mit Ambulatorien, Tageskliniken, Hometreatment,  Krisenteam innerhalb der Klinik, Spezialteam für komplexe Patienten (heavy user) und Konsiliar- und Liaisondienst der Kinder-, Erwachsenen- und Alterspsychiatrie. Einer der Schwerpunkt des OSC ist die beziehungsorientierte Intensivbetreuung von schwer kranken Patienten in verschiedenen Setting.

Enge Zusammenarbeit mit Pro Mente Sana

Pro Mente Sana hat seit fünf Jahren ein eigenes Büro im Sinne einer Anlaufstelle für die Patienten innerhalb des Klinikareals. Die Mitarbeiterin von Pro Mente Sana, von Beruf Sozialarbeiterin, hilft Patienten, ihre Anliegen gegenüber der Klinik besser zu kommunizieren respektive zu vertreten. Die Zusammenarbeit mit Pro Mente Sana ist Teil der verstehens- und beziehungsorientierten Ausrichtung der kantonalen Tessiner Psychiatrie. Einerseits steht das Erkennen der Bedürfnisse der Patienten in einem schwierigen Moment ihres Lebens respektive während ihres Krankenverlaufs im Vordergrund. Andererseits wird auch dem Verstehen der psychiatrischen Störung und dem Deuten der Symptomatik in ihrem psychosozialen Umfeld eine grosse Bedeutung beigemessen. Es geht bei der Behandlung also nicht vordergründig um Reduktion der Symptomatik oder um Verhaltensänderung, sondern um das Verstehen des Patienten mit seinen innerpsychischen und psychosozialen Konflikten, was schliesslich zur Besserung des Zustandsbildes oder zur Heilung führt. Diese Grundhaltung wird auch im Prinzip der Offenen Psychiatrie deutlich, indem der diagnostische und therapeutische Aspekt eines Klinikaufenthaltes zentral ist, die Übernahme von Aufgaben der sozialen Kontrolle, was in unserem Verständnis nicht eine Aufgabe einer medizinischen Disziplin wie der Psychiatrie ist, aber möglichst abgelehnt wird. In der Vergangenheit wurden Aufgaben der sozialen Kontrolle der Psychiatrie explizit zugeordnet. Heute erfolgen solche Aufträge eher implizit und häufig bei unklarer Rechtslage, unklaren Zuständigkeiten oder bei Überforderung der zuständigen Akteure. Dem Schutz des therapeutischen Settings kommt also eine grosse Bedeutung zu, und es ist die aufwändige Aufgabe der ärztlichen Direktion, dieses Setting zu verteidigen, indem immer wieder die Zuständigkeiten mit der Polizei, Justiz, somatischen Notfallstationen, Ambulanzen und Zivilbehörden geklärt werden.

Reduktion von Zwangsmassnahmen

In unsere Klinik erfolgen pro Jahr mehr als 1700 Einweisungen – circa 40 % davon mit fürsorgerischer Unterbringung (FU), was im nationalen und internationalen Vergleich ausserordentlich hoch ist und dadurch bedingt ist, dass die Privaten Kliniken im Kanton bei gleicher Anzahl Betten kaum Patienten mit FU aufnehmen. Noch bis vor wenigen Jahren wurde in der Klinik eine hohe Anzahl Zwangsmassnahmen durchgeführt. So wurde in manchen Jahren fast jeder vierte Patient mechanisch am Bett fixiert. Dies stand im Widerspruch zur Klinik mit offenen Abteilungen. Auch Dank Pro Mente Sana und dank finanzieller Unterstützung des Kantons wurde bereits vor 10 Jahren mit einigem Erfolg begonnen, Massnahmen zur Reduktion der Zwangsmassnahmen durchzuführen, beispielsweise durch Teams, die sich der Deeskalation von kritischen Situationen  in der Klinik (Krisenteam) oder den komplexen Patienten ausserhalb der Klinik (intensive case management) widmen und so gewaltgeprägten Einweisungen in die Klinik vorbeugen. Diese Massnahmen wurden ab 2012 verstärkt. In kurzer Zeit gelang es, die für den Patienten in der Regel traumatisierenden Fixationen und Isolationen ganz abzuschaffen, so dass nun die psychiatrische Behandlung in einer Klinik mit offenen Stationstüren ohne Isolierung und Fixierung stattfindet. Zwangsmedikationen werden nach gründlicher Abwägung bei fehlenden Alternativen weiter durchgeführt. Dieser Klinikrealität wird Neugier und Interesse entgegengebracht, aber es fehlt auch nicht an Skepsis, an Einwänden und Kritik. Im Folgenden soll kurz erläutert werden, wie dieses Ergebnis erreicht werden konnte, wie wichtige Parameter, wie Suizidalität oder Aggression auf den Stationen, beeinflusst werden konnten, und es soll auch den häufigsten kritischen Argumenten begegnet werden.

Stolpersteine und Chancen bei Umsetzung

Unabdingbar für das geschilderte Resultat ist, dass die medizinische, pflegerische und administrative Direktion, das Ziel verfolgen, die Patienten möglichst wenig Zwang auszusetzen. Machtfragen oder kurzfristige finanzielle Sparüberlegungen behindern die Umsetzung. Das Konzept muss politisch unterstützt werden, um in schwierigen, unvermeidlich auftretenden Situationen nicht immer sofort reaktiv defensive Massnahmen, wie zum Beispiel Schliessung von Abteilungen, ergreifen zu müssen. Der Auftrag der Klinik muss klar sein, nämlich ausschliesslich die Behandlung von psychisch kranken Menschen, und er muss immer wieder gegen Versuche, die Psychiatrie zur sozialen Kontrolle zu benutzen (indem beispielsweise strafrechtliche oder sozial schwierige Aspekte psychiatrisiert werden), verteidigt werden. Natürlich setzen wir uns vehement dafür ein, dass psychiatrische Probleme nicht kriminalisiert werden. Auf der therapeutischen Ebene geht es vor allem darum, dem Verlangen, alleine die Symptomatik und das Verhalten der Patienten zu kontrollieren, konsequent therapeutische Intervention entgegenzusetzen. Wobei es sich häufig um ein Beziehungsangebot handelt mit dem Bemühen, das Leiden des Patienten zu verstehen und wo nötig zu deuten und natürlich zu lindern. Patienten werden darum zum Beispiel während suizidaler Krisen oder in Momenten potentieller Fremdaggression nicht durch ungelerntes Personal überwacht, sondern die qualifiziertesten Mitarbeiter wenden sich in diesem Moment dem leidenden Patienten zu, um mit ihm die schwierigen Momente zu überstehen. Es handelt sich hier um eine aufwändige therapeutische Intervention, die aber sehr wirksam ist und überdies das Vertrauen des Patienten in sich selber und in das Hilfsangebot stärkt. Natürlich sind für diese Art von therapeutischer Vorgehensweise eine klare Diagnostik und wo nötig eine konsequente Pharmakotherapie unabdingbar. In unserer Klinik arbeitet darum nur in Psychiatrie spezialisiertes Pflegepersonal und glücklicherweise ist die Rekrutierung von einer genügend grossen Anzahl fähiger und motivierter Ärzte möglich, wobei aber nur die Hälfte der Anzahl Ärzte im Vergleich zu entsprechenden Kliniken in der Schweiz zur Verfügung stehen.  Die Art von Personalauswahl zeigt, dass wir der Meinung sind, dass nur hochspezialisierte Fachleute sich um die Patienten während der akuten Krankheitsphase kümmern können. Auf die Anstellung von Hilfspersonal wird deswegen konsequent verzichtet. Neben der Tatsache, dass keine Fixationen und Isolierungen mehr durchgeführt werden wurde eine Reduktion von kritischen Ereignissen (Reduktion von Suiziden im stationären Bereich, Reduktion von fremdaggressiven Handlungen), eine Reduktion der Medikamentenverschreibung und eine Verbesserung des Stationsklima festgestellt.

Dr. Rafael Traber war von August 2012 bis März 2014 Ärztlicher Direktor der Kantonalen Psychiatrischen Klinik im Tessin, um ab April 2013 die ärztliche Gesamtleitung des Tessiner Psychiatrienetzwerkes (OSC), zu dem die Klinik gehört, zu übernehmen. Seine Ausbildung in Psychiatrie absolvierte er an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich und an der Psychiatrischen Poliklinik des Universitätsspitals Zürich.

Dr. Raffaella Ada Colombo übernahm ab April 2014 die Nachfolge von Dr. Rafael Traber als ärztliche Direktorin der Kantonalen Psychiatrischen Klinik, wo sie vorher bereits als Oberärztin und Chefärztin tätig war. Die spezialärztliche Ausbildung zur Psychiaterin erfolgte in der Lombardei, Italien.

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