Psychiatrie 4.0 – Von der Psychotherapie zu interventionellen Methoden

Neurostimulationsverfahren erleben bei schweren Depressionen oder Katatonien einen Aufschwung. Trotz belegter Wirksamkeit sind viele Psychiater der interventionellen Psychiatrie gegenüber skeptisch. Michael Kammer-Spohn und Daniele Zullino haben sich über die Herausforderungen rund um diese technisierte Reparaturmedizin ausgetauscht.  

Michael Kammer-Spohn: «Als psychotherapeutisch-orientierter Psychiater habe ich eine „natürliche“ Abneigung gegen die interventionellen Verfahren. Ich weiss zwar um die Wirksamkeit, erlebe die invasiven Neurostimulationsverfahren aber als einen „brutalen“, groben Eingriff in die körperliche Sphäre der Betroffenen. So stehe ich im Dilemma, dass ich zum einen den Patienten helfen will, autonomer zu werden. In der Anwendung dieser Methoden, insbesondere auch der EKT erscheint mir der Patient aber völlig ausgeliefert und in Narkose.»

Daniele Zullino: «Zwar kann ich diese Befürchtungen teilweise verstehen, gebe aber zu bedenken, dass eine Psychopharmakatherapie ebenfalls ein relevanter Eingriff in das Organische darstellt, wie eine Operation auch. Das Gefühl der Kontrolle ist somit nur graduell.»

Michael Kammer-Spohn: «Der Patient hat für die Zeit der Behandlung aber keine Kontrolle. Bei der EKT sehen wir mit dem Krampf die direkte (Neben)-Wirkung vor unseren Augen.»

Daniele Zullino: «Ja, die Methode wirkt auf das System. Dies ist aber nicht anders als bei einem Muskeltraining, das durch eine Störung der Homöostase Muskelkater verursacht. Man könnte aber auch folgenden Vergleich ziehen: eine Osteosynthese entspricht der EKT, die Physiotherapie der Psychotherapie.»

Michael Kammer-Spohn: «Viele von unseren Kolleginnen und Kollegen haben sich ja bewusst für sanftere und begleitende Behandlungsmethoden entschieden, sonst wären wir ja Chirurgen.»

Daniele Zullino: «Ist eine Psychotherapie wirkliche eine sanftere Therapie? Diese hat ebenfalls Nebenwirkungen, dazu braucht sie mehr Zeit und kostet auch. Interventionelle Methoden hingegen wirken schnell und sichtbar. Das dahinterliegende Prinzip ist, das wir damit etwas Dysfunktionales stören, um das Gleichgewicht wieder herzustellen, das machen wir in der Psychotherapie auch.»

Michael Kammer-Spohn: «Und trotzdem spüre ich Unbehagen. Zum einen liegt dies an der technischen Komponente, wobei sich jedes Fachsimpeln wie ein Tuningwettbewerb von Rennwagen anhört. Zum anderen hängt es auch mit der „dunklen“ Vergangenheit der „alten“ Psychiatrie zusammen und die Art, wie diese Methoden immer noch dargestellt werden, bspw. in Filmen.»

Daniele Zullino: «Eine EKT läuft heute anders ab, zwar ist der Patient narkotisiert und reagiert mit Krampfanfällen. Die Patienten laufen aber kurze Zeit später zu Fuss aus den Behandlungsräumen. Ich selber habe über 100 EKT-Therapien durchgeführt. Am Anfang war mir auch nicht wohl. Beeindruckt hat mich aber die Haltung vieler Patienten, die diese Therapie wegen der unmittelbaren Wirkung und schnellen Besserung sehr schätzten. Es ist schon so: Patienten mit wahnhaften Depressionen oder Katatonie profitieren und haben wenig Nebenwirkungen. Den Wirkmechanismus erklärt man über den BDNF (Brain-derived neurotrophic factor). Patienten werden oft erst fähig, von einer Psychotherapie zu profitieren. »

Michael Kammer-Spohn: «Trotz Widerständen seitens der Fachärzte wollten wir wegen der anerkannten Wirkung die EKT bei uns einführen. Wir stoppten dieses Projekt wieder aus ökonomischen Aspekten, denn stationäre Settings werden schlechter vergütet als ambulante, insbesondere ist die Anästhesie sehr teuer. Dies ist ein weiteres Problem, denn genau die stationären, also die sehr kranken Patienten wären diejenigen, welche diese Behandlungsmethoden benötigten. Problematisch finde ich auch eine Behandlung bei eingeschränkter Urteilsfähigkeit von sehr kranken Patienten, was dann einer Therapie unter Zwang gleich kommt.»

Daniele Zullino: «Dies ist zwar heikel, trifft aber auch auf eine Pharmakotherapie oder Hospitalisation zu. Widersprüchlich finde ich es, dass diese modernen Methoden aufgrund von Skepsis oder Vergütungsunterschieden nicht eingesetzt werden, obwohl die Wirksamkeit empirisch belegt ist.»

Michael Kammer-Spohn: «Um die Methode Leitlinien-gerecht umzusetzen, braucht es auch  finanzielle und personelle Ressourcen. Wir müssen dafür Ärzte ausbilden und Qualitätskriterien festlegen. Es stellt sich auch die Frage, wie sich diese Therapien weiterentwickeln?»

Daniele Zullino: «So oder so: Wir müssen die Patienten vorbehaltslos über die verschiedenen Therapiemethoden aufklären. Interventionelle Methoden wird nicht jeder Psychiater selber anwenden. Er sollte diese aber kennen und seine Patienten basierend auf der Indikation beraten können. Ich bin aber schon heute überzeugt, dass sich die Methodendebatte normalisieren wird, ähnlich wie es in der Gynäkologie mit der Debatte rund um die Schwangerschaftsabbrüche geschehen ist.

Professor Dr. Daniele Zullino ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Sein Spezialgebiet sind Suchterkrankungen, so leitet er seit 2005 die Abteilung für Suchtkrankheiten der Psychiatrischen Klinik des HUG.

Michael Kammer-Spohn ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und verfügt über einen Masterabschluss in Philosophie. Er ist Leitender Arzt der Allgemeinen Psychiatrie in der Klinik St. Pirminsberg der St.Gallischen Psychiatrie-Dienste Süd.

 

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