«Lebenslange Entwicklung von Arbeitsfähigkeit»

Keynote-Referat PSY-Kongress 2019 von Dr. phil. Niklas Baer

Erwerbssituation und psychisches Befinden hängen zusammen. Niklas Baer diskutiert an seinem Keynote-Referat am PSY-Kongress 2019 über die These, dass sich relevante Arbeitsprobleme normalerweise nicht lösen lassen, wenn die Behandelnden nicht aktiv in die Problemlösung eingebunden sind.  

Welche rehabilitativen Angebote brauchen psychisch kranke Menschen wirklich?

Es gibt heute in der Schweiz eine breite Palette an rehabilitativen Massnahmen seitens der Invalidenversicherung, aber auch der Privatversicherer, zum Beispiel Case Management in der Krankentaggeldversicherung. Diese Auswahl zu haben, ist zentral, da der Interventionsbedarf je nach Art der Beeinträchtigung deutlich variiert. Aber besonders braucht es Massnahmen, die früh einsetzen und nahe am Arbeitsmarkt stattfinden.

... gibt es nichts Neues?

Neue Ansätze finden sich weniger in den Interventionsmethoden – das vielzitierte erfolgreiche Konzept des «Supported Employment» stammt aus den 90er Jahren – sondern eher in systemischen, politisch-organisatorischen Bereichen. Es gibt kantonale Initiativen für eine systematische Zusammenarbeit von IV-Stellen und psychiatrischen Diensten und von IV-Stellen und Arbeitsvermittlungszentren, es wird diskutiert, ob man in der Sozialhilfe die finanziellen Anreize zur Arbeitsaufnahme verschärfen oder das Mindestalter für eine IV-Rente anheben sollte etc.. Im Fokus steht heute zudem die Frühintervention bei Lehrlingen und Erwerbstätigen mit Problemen, also die Ausgliederungsprävention. In der Psychiatrie Baselland entwickeln wir beispielsweise aktuell unter dem Namen «WorkMed» einen neuen Bereich «Arbeitspsychiatrie». Darin werden neuartige integrationsorientierte psychiatrische Abklärungen und Behandlungen sowie Dienstleistungen für Unternehmen angeboten. Psychiatrische Hilfen also, die den Verbleib der Patienten im Arbeitsmarkt gleich hoch gewichten wie deren gesundheitliche Stabilisierung. 

Psychisch Kranke brauchen Ihnen zufolge Respekt, Ermutigung und Akzeptanz. Wäre Re-Integration also nicht ganz einfach?

Respekt vor der Person, Würdigung des Leidens, Akzeptanz der Erkrankung und gleichzeitig das Potential sehen und ermutigen, das ist zentral und doch nicht ganz so einfach umzusetzen, wie es klingt. Und auf dieser Beziehungsbasis braucht es oft etwas «Druck», dass man den Patienten etwas zumutet, Probleme benennt und Grenzen setzt. Dies scheint mir besonders wichtig, wenn ängstlich-vermeidendes, konfliktreiches oder disziplinloses Verhalten die Integration gefährden. Die Arbeitgeber wiederum stehen in der Verantwortung, dass sie Mitarbeitende früh genug auf Auffälligkeiten ansprechen, Unterstützung anbieten, Erwartungen kommunizieren und früh fachliche Unterstützung beiziehen. Zudem sollten Arbeitgeber – wie letztlich wir alle – ihre Haltung gegenüber psychischen Problemen im Betrieb überdenken: ob Mitarbeitende psychische Probleme haben oder nicht, ist wichtig, aber meist nicht entscheidend. Entscheidend ist, wie alle damit umgehen. Auch das klingt banal, aber von solch einer Haltung sind wir noch sehr weit entfernt.

Beziehen Ihre Studien deshalb häufig psychisch kranke Menschen mit ein?

Wir beziehen sie ein, weil wir viel von ihnen lernen können, zum Beispiel auch den obigen Gedanken. Gerade wenn es um solch komplexe Themen wie Integration geht, in das mehrere Akteure involviert sind – neben den erkrankten Personen auch deren Arbeitsumfeld, Behandler und Versicherungen – ist es wichtig, deren subjektive Perspektive zu kennen und zu verstehen. Die Wahrnehmung und das Erleben der Betroffenen muss man deshalb kennen, weil es einen wichtigen Einfluss auf den rehabilitativen Verlauf hat. Oft spielen arbeitsbezogene Ängste eine Rolle. Kennen wir diese nicht, können sie zum Scheitern von Eingliederungsmassnahmen führen. Erwartungen, Überzeugungen, Selbstbild oder soziale Wahrnehmung sind relevante Faktoren für die Integration.

Sie sprechen am PSY-Kongress über die Entwicklung von Arbeitsfähigkeit. Um was geht es Ihnen?

Im Zentrum steht die Diskussion über die Rolle der Psychiater und Psychotherapeuten bei Arbeitsproblemen und Re-Integration der Patienten. Obwohl alle Beteiligten wissen, dass Erwerbssituation und psychisches Befinden eng zusammenhängen, unterschätzen sie möglicherweise, wie häufig Arbeitsprobleme bei Patienten sind und wie wichtig ihr eigenes Wissen über den Patienten für die Problemlösung ist. Wie weit sich hieraus auch ein verändertes Behandlungsverständnis ergeben könnte – auch das würde ich gerne diskutieren.

Der Psychologe Dr. phil. Niklas Baer leitet seit 2005 die Fachstelle für psychiatrische Rehabilitation der Psychiatrie Baselland. Nach seinem Studium der Psychologie, Psychopathologie und Pädagogische Psychologie in Zürich arbeite Baer an einer psychosozialen Beratungsstelle für Strafentlassene. Er kam ab 1994 als Leiter eines Beruflichen Rehabilitationsprogrammes für psychisch kranke Menschen zum ersten Mal mit seinem heutigen Fachgebiet in Kontakt. Von 2000-2004 war er Projektmitarbeiter für die Psychiatrieplanung im Kanton Baselland. Von 2011-2015 war er Mitglied der OECD-Arbeitsgruppe «Mental Health and Work» und Co-Autor verschiedener OECD-Hintergrundberichte und Länderanalysen.

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