
In der Schweiz gibt es aktuell 68 forensische Psychiater und 14 forensische Kinder- und Jugendpsychiater mit Schwerpunkttitel. Deren Aufgabe ist spannend und sinnhaft, hat hingegen nur wenig mit den modernen Serienhelden zu tun.
Wegen unserer Liebe zum Krimi verführen uns Netflix und Co inzwischen allabendlich. Gut gemachte «Cliffhanger» halten uns auch am Folgetag bei der Stange. Dynamische Forensiker haben den stämmigen Kommissar inzwischen als Protagonisten verdrängt: So schauen wir Pathologen, Laboranten und forensischen Psychiatern inzwischen regelmässig bei ihrer Arbeit zu. Doch was hat das Bild des allwissenden «Psycho-Profilers» mit dem Beruf des forensischen Psychiaters zu tun? «Nicht so viel!», erwidert Marc Graf lachend. Der forensische Psychiater und Psychotherapeut hat eine strukturelle Professor für dieses Teilgebiet der Psychiatrie an der Universität Basel. «Die forensische Psychiatrie agiert an der Schnittstelle zwischen Recht und dem Fachgebiet der Psychiatrie». Es geht hier vor allem um die Gutachtertätigkeit aber auch Therapieangebote für Straftäter.
Die forensische Psychiatrie befasst sich mit rechtlichen und psychiatrischen Fragestellungen hauptsächlich im Bereich des Straf-, Zivil- und Versicherungsrechts. Eine zentrale Aufgabe ist die Gutachtertätigkeit. In einem solchen Gutachten wird abgeklärt, ob eine psychische Störung vorliegt, wie sich diese genau auf bestimmte Fragestellungen auswirkt und welche Behandlungsmöglichkeiten bestehen. Dabei kann es sich um strafrechtliche Fragen handeln, aber auch um Fragen der Urteilsfähigkeit. «Wir klären beispielsweise auch post mortem die Testierfähigkeit bei Erbkonflikten ab, erstellen Gutachten über die Ehefähigkeit oder untersuchen die Urteilsfähigkeit beim assistierten Suizid», erklärt Marc Graf. «In den meisten Fällen geht es aber um Straftäter und so sind wir forensische Psychiater während einer Inhaftierung oder dem Vollzug auch für Gefährlichkeitsprognosen zuständig.»
Der Gutachtenprozess an sich ist sehr strukturiert – bei Erwachsenen wie auch bei Kindern und Jugendlichen. Volker Schmidt, einer der 14 forensischen Kinder- und Jugendpsychiater in der Schweiz, erklärt den Ablauf: «Zu Beginn steht das Aktenstudium, dann reden wir mit dem Jugendlichen über seine Vorgeschichte, aber auch mit den Eltern über die Lebensgeschichte ihres Kindes. In einem weiteren Schritt befragen wir den Jugendlichen zu seinen Delikten und nehmen eine Analyse seines sozialen Umfelds vor.» Ausserdem werden Tests gemacht, u.a. ein IQ-Test, weil oft auch die Frage der beruflichen Integration im Raum steht. «So setzen wir ein Puzzle zusammen und beurteilen die persönliche Entwicklung, den geistigen Zustand, die Schuldfähigkeit, die Rückfallgefahr des Betroffenen und schlagen Massnahmen vor», so Schmidt. «Als forensischer Kinder- und Jugendpsychiater erstelle ich Gutachten im Bereich des Straf-, Kindesschutz- und Familienrechts».
Die zweite Säule der forensischen Psychiatrie ist die Behandlung. Therapien dienen hier der Auseinandersetzung des Delinquenten mit seinen Taten, so Marc Graf: «Ziel der deliktorientierten Methoden ist eine bessere Kontrolle problematischer Verhaltensweisen und ein deliktfreies Leben.» Bei Erwachsenen geht es auch um Sexualstraftaten – wie auch die Pädophilie. «Im Fokus einer solchen Behandlung steht das Bewusstsein für die Neigung und die Prävention, diese nicht auszuleben», erklärt Graf. Dabei geht es in erster Linie um die Sicherheit der Gesellschaft. «Auch bei straffälligen Jugendlichen fokussieren wir in der Therapie auf die Taten, entwickeln Strategien gegen einen Rückfall und besprechen die Reintegration», betont Volker Schmidt. Nach dem Unterschied zur sonstigen Tätigkeit als Psychiater gefragt, erwidert Schmidt: «Es ist ein anderes Setting, denn im Gegensatz zu jeder anderen Therapie werden die Jugendlichen vom Gericht zur angeordneten Behandlung quasi verknurrt, ansonsten drohen Sanktionen.»
Marc Graf betont, dass jemand der primär an der «Sensation» interessiert ist, falsch im Beruf ist. Für ihn sind Expertenkommentare in den Medien ohne detaillierte Fallkenntnisse nicht mehr als Kaffeesatzlesen. Graf verweist auf die grosse Verantwortung als Gutachter, die Sachverstand und Selbstreflektion erfordere: «Diese Tätigkeit verlangt eine stabile Persönlichkeit und ein gut in der Normalität verankertes Leben». Er selber hat bisher keine negativen Erfahrungen mit Straftätern gemacht. Er sagt dazu: «Wenn man anständig und respektvoll mit Menschen umgeht, dann findet man auch einen Weg». Auch die Arbeit mit straffälligen Jugendlichen ist Schmidt zufolge in erster Linie Beziehungsarbeit: «Diese gelingt ebenfalls meistens gut, denn die Betroffenen haben oft schon als Kinder viele Misserfolge oder Beziehungsabbrüche erlebt, haben ein beschädigtes Selbstvertrauen und sind bedürftig nach Anerkennung». Gerade das Jugendalter, in dem auch hormonell viel passiert, ist spannend, weil es eine Zeit ist, in der man viel beeinflussen kann.
Ein forensischer Psychiater braucht grundlegende Fach- und Therapiekenntnisse wie auch juristische Kenntnisse und vor allem viel Erfahrung und Integrität. «Es ist auch eine sehr wissenschaftliche Arbeit, die in Basel als Teil der Universitätsklinik eine wichtige Anbindung an die anderen psychiatrischen und somatischen Fachdisziplinen hat», betont Marc Graf. Er schätzt die Vielseitigkeit der Aufgabe: «Ich habe so mit den unterschiedlichsten Taten zu tun und beschäftige mich intensiv mit der Psyche der Straftäter». Auch Schmidt findet zwar manche Taten schockierend, sieht diese vor allem aus einer fachlichen Perspektive. «Gescheiterten Jugendlichen aber zu helfen, wieder auf den richtigen Weg zu finden, hat schon etwas sehr Sinnstiftendes», betont er. «Mit den richtigen Interventionen kann man das Risiko für weitere Straftaten senken und dadurch potenzielle Opfer schützen». Beelendend findet Volker Schmidt bisweilen schwierige Scheidungsfälle, bei denen er ebenfalls als Gutachter agiert: «Hier leiden die Kinder immer sehr darunter, denn diese Hochkonfliktsituationen holen oft das schlechteste aus den Parteien heraus.» Die Bedürfnisse der Kinder fallen damit oft aus dem Blick. Dies ist ein Grund, weshalb er darüber ein Ratgeberbuch geschrieben hat.
Prof. Dr. Marc Graf ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, seit 1997 ist er in der forensischen Psychiatrie tätig. Er ist Klinikdirektor der Forensisch-Psychiatrischen Klinik der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel und seit 2014 Professor für Forensische Psychiatrie an der Universität Basel.
Der Kinder und Jugendpsychiater Dr. med. Volker Schmidt ist Inhaber des Schwerpunkttitels forensische Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie. Er führt in Solothurn eine Praxis für Forensik und Psychotherapie.
Der Berufsweg zum forensischen Erwachsenen- oder Kinder- und Jugendpsychiater führt über ein Medizinstudium mit einer anschliessenden Facharztausbildung in Psychiatrie oder Kinder- und Jugendpsychiatrie. In der Schweiz ist eine weitere zweijährige Zusatzausbildung erforderlich, die mit einem Schwerpunkttitel «Forensischer Psychiater und Psychotherapeut» oder «Forensischer Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut» abgeschlossen werden kann.