«Kern der psychischen Versorgung ist nicht das Spital!»

Der 72-jährige Benedetto Saraceno war einer der Schlüsselpersonen der «Psichiatria Democratica». Er hat als oberster WHO-Psychiater die psychische Versorgung weltweit verbessert.

Durch das Leben von Benedetto Saraceno zieht sich ein roter Faden: Menschen und ihre Rechte. Schon früh interessierte sich der in Genua geborene und in Mailand aufgewachsene junge Saraceno für Menschen und studierte deshalb Medizin. «Obwohl ich während des Studiums zuerst Neurologe werden wollte, beeindruckte mich Franco Basaglia in seinen Vorlesungen so sehr, dass ich in die Psychiatrie wechselte», erwidert er auf die Frage, was den Ausschlag zu seiner Berufswahl gab. Nachdem er im Jahr 1975 seine Facharztausbildung abgeschlossen hatte, arbeitete er selber als Teammitglied von Basaglia in Triest: «Unsere Ideen waren fundamental: Wir begannen die psychiatrischen Spitäler zu schliessen und ein nationales Netzwerk mit kommunalen psychiatrischen Diensten zu etablieren!» Benedetto gilt bis heute als eine der wichtigsten Figuren dieser «De-Institutionalisierungsprozesse», die damals ganz Italien erfassten.

Von der Psychiatrie zur Versorgungsforschung

Bald bekam Saraceno die Gelegenheit seine Theorien praktisch umzusetzen. Im Jahr 1981 wurde er Direktor einer Mailänder Wohnanlage für Patienten mit schweren Psychosen. «Unsere Maxime war es auch hier, dass Therapie und Freiheit Hand in Hand gehen», betont er rückblickend. «Wir waren alle nach wie vor enorm euphorisch über diesen Wandel». Doch der Psychiater interessierte sich zunehmend für die Auswirkungen dieser Systemveränderung und beschloss in die Epidemiologie zu wechseln. Im Jahr 1985 wurde Benedetto Saraceno zum Direktor für Sozialpsychiatrie und Epidemiologie am Institut «Mario Negri» in Mailand gewählt, wo er neun Jahre forschte und sich mit Public Mental Health beschäftigte. Seine Weggefährten schildern es auch heute noch als eine der wesentlichen Errungenschaften seiner Arbeit, dass die Menschenrechte von psychisch Kranken fortan mehr respektiert wurden. Ihm selber ging es darum, die Reform zum einen zu verteidigen, zum anderen aber auch wissenschaftlich abzustützen. Und schliesslich waren ihm zwei weitere Aspekte wichtig: Er belegte, dass die Zufriedenheit der Patienten mit dem Modell der öffentlichen, sozialen und partizipativen Versorgung einiges höher lag und dazu die Kosten nicht stiegen. Letztere waren nun vielmehr den tatsächlichen Bedürfnissen der Patienten angepasst.

Von der Forschung zu Public Health

Mitte der Achtziger Jahre wurde Benedetto Saraceno zum Berater der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation ernannt. Für ihn war es rückblickend nicht nur wegen der Themen der psychischen Versorgung eine sehr spannende Zeit: «Als junger Mann war ich fasziniert vom Reisen und dank dieser Aufgabe flog ich fortan unzählige Male nach Nicaragua, Costa Rica, Salvador, Chile, Peru und Panama». Er beeinflusste die psychische Versorgung dort entscheidend: So war er im Jahr 1990 Mitorganisator der Konferenz, die zur «Erklärung von Caracas» führte und die psychische Gesundheitsversorgung des ganzen Kontinents revolutionierte. «Meine Rolle war vor allem die eines Senior-Beraters und Epidemiologen», erklärt Saraceno noch heute bescheiden. Daneben forschte er im Institut «Mario Negri» weiter. In den zehn Jahren seines Wirkens war Saraceno massgeblich an der Anerkennung, Entstigmatisierung und Behandlung von psychisch kranken Menschen in den lateinamerikanischen Ländern beteiligt.

Schliesslich zum WHO-Direktor für psychische Gesundheit

Mitte der Neunziger Jahre wurde die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf auf Benedetto Saraceno aufmerksam und rekrutierte ihn als Direktor für das «Nations for Mental Health»-Programm. «Dies war eine Initiative zur Förderung der psychischen Gesundheit unterversorgter Bevölkerungsgruppen», erklärt er. Während seine Familie in den Jahren zuvor in Mailand wohnen blieb, zog er mit seiner Frau nun nach Genf, seine beiden inzwischen erwachsenen Töchtern blieben in Italien. Im Jahr 2000 folgte die nächste Beförderung: Saraceno wurde zum Direktor des heutigen «Departement for Mental Health und Substance Use». «Meine Erfahrungen in klinischer und wissenschaftlicher Arbeit, aber auch meine Kompetenzen in Public Health waren für diese diplomatische und politische Aufgabe sehr wichtig», sagt der Psychiater. Saracenos Ziele waren nach wie vor, die Psychiatrie zu befreien und das System der psychischen Versorgung zu verbessern. Gesagt, getan: Im Jahr 2001 publizierte Saraceno den ersten WHO-Weltgesundheitsbericht zur Psychischen Gesundheit. Bis zu seinem Wechsel nach Lissabon im Jahr 2010 stiess er in vielen Länder Reformen an, lancierte die internationale Strategie zur Bekämpfung des Alkoholkonsums und setzte sich intensiv für die Förderung der Menschenrechte von Menschen mit psychischen Erkrankungen ein. Seit 2010 ist Benedetto Saraceno Generalsekretär des Lissabonner Instituts für «Global Mental Health».

Immer dem roten Faden der Menschenrechte folgend

Saracenos ganzes Schaffen zielte auf die Anerkennung der Menschenrechte von psychisch kranken Menschen, die Öffnung der Psychiatrien, die Ermöglichung der psychosozialen Rehabilitation und die Verbesserung der globalen psychischen Gesundheit. «Rückblickend trug die pharmakologische Revolution zwar wesentlich zur Entwicklung bei, aber entscheidend waren die Rechte der Betroffenen», erklärt er. «Psychisch Kranke sind zu allererst Bürger und haben die gleichen Rechte wie gesunde Menschen!» Dieser moralische und ethische Anspruch trieb Saraceno all die Jahre an. Die Reform der «Psichiatria Democratica» reduzierte die Betten in den psychiatrischen Kliniken weltweit und etablierte die gemeinschaftsnahe Versorgung: «Psychische Versorgung basiert heute auf sozialen, präventiven und rehabilitativen Elementen – Betroffene sind Teil der Gemeinschaft». Dazu muss weltweit der Zugang zur psychischen Versorgung gewährleistet werden, was auch Saraceno fordert: «Es ist uns bewusst, dass 85% nie einen Psychiater brauchen werden, aber wir sollten alles daran setzen, den restlichen 15% eine psychiatrische Behandlung zu ermöglichen.» Im Lissabonner Institut für «Global Mental Health» gibt er deshalb bis heute sein Wissen an die künftigen Experten auf dem Gebiet der psychischen Versorgung weiter. 

Benedetto Saraceno arbeitet noch heute als Generalsekretär des «Lisbon Institute of Global Mental Health» und als Ambassador der Special Olympics. Er hat über 200 Publikationen veröffentlicht, 15 Bücher herausgegeben und ist selber Autor von 10 Büchern. Benedetto Saraceno ist Honorary Fellow des Royal College of Psychiatrists des United Kingdoms, Ehrendoktor der Universität Birmingham City, Ehrendoktor der Universidad Nova de Lissabon und Fellow der Swiss School of Public Health.

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